Höhenangst ist kein Phänomen unserer Zeit. Schon vor rund 250 Jahren machte sie einer bekannten Persönlichkeit zu schaffen:
Johann Wolfgang von Goethe studierte im Jahre 1770 in Straßburg, wo sich das Straßburger Münster mit dem seinerzeit höchstem Kirchturm der Welt befand.
Goethe hatte als Folge einer körperlichen Krankheit, einige psychische Beschwerden entwickelt. Dabei griff der junge Student zu einer rabiaten Methode der Selbstbehandlung:
„Ich befand mich in einem Gemütszustand, der mich bei allem was ich unternehmen wollte und sollte hinreichend förderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ.
Ein starker Schall war mir zuwider, krankhafte Gegenstände erregten mir Ekel und Abscheu. Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedes Mal befiel, wenn ich von einer Höhe herunter blickte.
Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise.
Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das Herz im Busen hätten zersprengen mögen.“
Auge in Auge mit der Höhenangst
Auch zur Überwindung seiner entstandenen Höhenangst nutzte Goethe eine solche Konfrontationsstrategie.
Er bestieg hierzu den höchsten Turm des Straßburger Münsters:
„Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms, und saß in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone , wie man´s nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man eine Platte, die kaum eine Elle (ungefähr 60 cm) ins Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die nächste Umgebungen und Zieraten die Kirche und alles, worauf und worüber man steht verbergen.
Es ist völlig als wenn man sich auf einer Mongolfiere (Heißluftballon) in die Luft erhoben sähe.“
Der 21-jährige Goethe bestieg den Kirchturm des Straßburger Münsters mehrmals innerhalb kurzer zeitlicher Abstände. Der Erfolg dieser Eigentherapie war erstaunlich:
„Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagstücke ausüben muß, um bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil gezogen.“
(Goethe, Dichtung und Wahrheit, 2/9, S. 337)
Auf die selbe Weise – mittels der Konfrontationsstrategie – besiegte Goethe anschließend auch noch seine Abscheu vor Krankheiten und krankhaften Dingen
Von Goethe lernen …
Goethe setzte bei seiner Eigentherapie auf sofortige, sehr starke Konfrontation mit seiner Angst. Jedoch ist auch eine langsame Steigerung der Konfrontation möglich, denn nicht jeder ist gewillt sich einer solchen heftigen Belastung sofort auszusetzen. Dabei wird die Höhe, der Du dich aussetzt langsam gesteigert, um so Schritt für Schritt zum Erfolg zu kommen.
Goethe bestieg den Kirchturm ohne unterstützende Hilfe einer Freundes – Psychotherapeuten gab es schließlich noch nicht – und stellte sich allein seinen Ängsten.
Empfehlenswert ist ein solcher Alleingang nur dann, wenn keine Gefahr für die eigene Gesundheit besteht, falls man zu starke Angstzustände bekommen sollte.
Ein Aussichtsturm mit stabilen Geländern und festen, verstärkten Glasscheiben ist also in diesem Falle ratsamer, als das Beklettern eines ungesicherten Gerüstes.
Von Vorteil ist es, wenn bei einem solchen Selbstversuch eine Vertrauensperson anwesend ist, die unterstützend und motivierend wirken kann.
Eine Vertrauensperson, die ebenfalls unter Höhenangst leidet, würde ich nicht als Begleitung empfehlen.
Ein umfangreicher Artikel mit der Beschreibung, wie Du selbst die
Konfrontationsstrategie einsetzen kannst, wird bald folgen.
Foto des Straßburger Münsters: Benh Lieu Song, Cathédrale de Strasbourg
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